„Warum immer wieder ich?“

Eva-Maria Stege rackerte fünf Jahre in einem sibirischen Arbeitslager/ Vergebens kämpfte sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Verfolgte Stalins um Entschädigung: Das „Unrechtsbereinigungsgesetz“ hat sie vergessen  ■ ULRIKE HELWERTH

taz. die tageszeitung vom 13. 7. 1992

Ein paar Meter weiter nur, und das alles wäre ihr erspart geblieben. Diese wenigen Meter damals, die bis zur Oderbrücke fehlten, davon ist Eva-Maria Stege überzeugt. Damals, Anfang Februar 1945, befand sich das 16jährige Mädchen mit Eltern und Geschwistern auf der Flucht vor der anrückenden Roten Armee. Aus dem Dorf Grochow, 50 Kilometer östlich von Frankfurt/Oder, östliche Mark Brandenburg, hatte sich der Treck in Bewegung gesetzt. Alle hatten nur ein Ziel: über die Oder. Doch kurz vor jener Brücke kommandierten Männer der NSDAP- Kreisleitung alle ZivilistInnen ins nächste Dorf zurück, denn die Chaussee mußte frei bleiben für die abziehende Wehrmacht.

In jenem Dorf wurde die 16jährige für immer aus ihrer bis dahin behüteten Kindheit gerissen. Denn nachts kamen die Russen und holten die Frauen. Eva-Maria wurde einem jungen betrunkenen Offizier „zugeteilt“. „Laß das, das macht doch alles schlimmer und nützt uns ja nichts“, wies ein älteres Dorfmädchen die weinende Eva-Maria zurecht, die sich entsetzt der brutalen Gewalt zu erwehren suchte. Die Sieger nahmen sich, was ihnen zuzustehen schien. Das Ausmaß der Massenvergewaltigungen durch Soldaten und Offiziere der Roten Armee auf ihrem Marsch nach Berlin sucht bis heute seinesgleichen. Hunderttausende, ja möglicherweise Millionen Frauen wurden in den Wochen und Tagen vor und nach Kriegsende zur Beute1. Ob Kinder oder Greisinnen: wie Freiwild wurden die Frauen, oft von mehreren Soldaten gemeinsam, in Kellern, im Treppenhaus, in ihren Wohnungen, auf der Straße, in den Flüchtlingstrecks, während der Zwangsarbeit überfallen. Immer wieder. „Nach dem zweihundertsten Mal habe ich aufgehört zu zählen“, vertraute eine Frau aus Ostpreußen Eva-Maria Stege an. Die Gewalt war alltäglich und öffentlich, geschah häufig vor den Augen der Ehemänner, Eltern, Kinder, Verwandten, NachbarInnen. Dennoch wurde dieses Thema bislang — aus Scham, aus politischer Opportunität — in der Geschichte verschwiegen oder höchstens als unvermeidliche Randerscheinung eines Krieges abgehandelt. Die kollektive Verdrängung überließ es den einzelnen Frauen, wie und ob sie dieses Trauma verwanden. Viele begingen Selbstmord, wurden dazu getrieben, von Ehemännern, Verlobten, Vätern und anderen Familienmitgliedern, die diese „Schande“ nicht verschmerzen konnten,

„Erschieß mich“, bettelte Eva- Maria nach dem ersten Mal ihren Vater an. In den Nächten, die folgten, flüchtete sie in völlige Apathie, stellte sich tot, seelisch und körperlich. Das blieb lange Zeit so. Auch nach fast 50 Jahren kann Eva-Maria Stege nur mit Mühe über jene Erlebnisse sprechen. Aber sie zwingt sich.

Die Vergewaltigungen waren nur der Anfang. Eva-Maria Stege geriet in das Heer der deutschen „Reparationsdeportierten“, jener ZivilistInnen aus den einstigen deutschen Ostgebieten, die zu Hunderttausenden vom sowjetischen Geheimdienst NKWD und der Roten Armee und mit Zustimmung der westlichen Alliierten zur „Wiedergutmachung“ und „Umerziehung“ in die Sowjetunion verschleppt wurden. Von Ende Januar bis Sommer 1945 wurden mindestens 200.000, vielleicht aber bis zu 500.000 Menschen östlich von Oder und Neiße oft willkürlich aufgegriffen — darunter viele Frauen und Minderjährige3. Mehr als die Hälfte starben namenlos bereits auf dem Transport, viele später in den Arbeitslagern überall in der Sowjetunion. Eva-Maria Stege überlebte — dank „meiner russischen Kassandra“. Eines Abends, am Anfang ihrer Gefangenschaft, stieß sie auf eine ältere Russin. Und diese prophezeite ihr folgendes Schicksal: „Mädchen, du bist eine Deutsche, und Stalin sieht in allen Deutschen seine Feinde. Er wird dich, wie alle seine Gegner, nach Sibirien bringen, für fünf, vielleicht aber auch für fünfundzwanzig Jahre. Wenn du zürückkehren willst, mußt du hart arbeiten, immer, auch unter den schwersten Bedingungen, vergiß das nie. Und noch eins: Du mußt Russisch lernen...“ Eva-Maria Stege kam für fünf endlose Jahre nach Sibirien. Sie lernte Russisch und sie arbeitete — unter härtesten Entbehrungen, zum Schluß nur noch 80 Pfund schwer: als Totengräberin und Schachtarbeiterin, als Maurerin, Stukkateurin, Traktoristin, Landarbeiterin, im Glühlampenwerk und in der Ziegelei, sie verlud Kohle und Schlacke, kutschierte Ochsenkarren und Pferdefuhrwerke, hütete Schweine. Und sie schippte Schnee, mit abgestorbenen Fingern und in nassen Filzstiefeln, bei dreißig, vierzig, fünfzig Grad minus. Sie büßte für die Verbrechen der Deutschen. Aber warum gerade sie? „Die Menschen starben nicht, sie verreckten“, an Auszehrung, Kälte, Krankheiten. Gut zwei Drittel der Menschen in ihrem Lager seien umgekommen, erzählt Eva- Maria Stege. 1.759 Tage dauerte dieser Alptraum, bis endlich das ersehnte „Skoro domoi“, „Bald nach nach Hause“, auch für sie galt. 1949, im Oktober, kam die Entlassung. Die DDR war gerade gegründet worden, und ein sowjetischer Offizier beglückwünschte die RückkehrerInnen: „Sie werden jetzt in einen neuen, demokratischen Staat kommen.“ An der Grenze in Frankfurt/Oder sagten die Rangierarbeiter: „Leute, bleibt bloß nicht hier in der Zone, geht nach drüben.“ Die 20jährige Eva-Maria aber wollte zu ihrer Familie, von der sie durch sporadische Briefwechsel in den letzten Jahren zumindest wußte, daß sie lebte. Verschlagen hatte es Eltern und Geschwister in ein Dorf nördlich von Berlin. Das Wiedersehen und die Eingewöhnung waren schwierig. Auch die Mutter hatte drei Jahre in einem Arbeitslager in Polen verbracht und war innerlich gebrochen. Gesprochen wurde über das erlebte Leid in der Familie nicht. Eva-Maria Stege verdrängte so gut sie konnte, wollte wieder zu Kräften kommen, blieb auch bewußt in der DDR, „weil da was Neues zu entstehen schien“. Ihre Erlebnisse als Kriegsbeute der „Befreier“ waren im neuen, demokratischen Deutschland kein Thema.

Als sich einmal ein paar Kollegen über ihre Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft unterhielten und sie beiläufig sagte, daß auch sie Sibirien kenne, bekam sie zu hören: „Die Freunde haben keinen nach Sibirien gebracht, der nichts verbrochen hatte.“ Also schwieg sie, wie all diejenigen, die aus den stalinistischen Gulags in der DDR eintrafen. Doch anders als diejenigen, die in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion als politische Gefangene inhaftiert, verbannt und nach Stalins Tod „rehabilitiert“ worden waren, erhielt Eva- Maria Stege niemals eine großzügige „Ehrenpension“ als Opfer des Faschismus oder als „Kämpfer gegen den Faschismus“. Dieses Schweigegeld war sie nicht wert. So lebt die heute 64jährige als Invalidenrentnerin von einer schmalen Rente, kämpft seit drei Jahren, seitdem sie zum ersten Mal über ihr Schicksal öffentlich geredet hat, um Wiedergutmachung für die stalinistischen Verbrechen. Von namhaften KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, PolitikerInnen hat sie zwar Unterstützung erfahren, doch ohne Erfolg bisher. Denn im ersten, heftig kritisierten „Unrechtsbereinigungsgesetz“ (es passierte Mitte Juni den Bundestag, scheiterte aber am Freitag letzter Woche an der SPD-Mehrheit im Bundesrat; jetzt muß sich der Vermittlungssausschuß darum kümmern) tauchen Eva-Maria Stege und ihre LeidensgefährtInnen nicht auf. Schließlich sieht der Einigungsvertrag nur die Entschädigung derjenigen Zivildeportierten vor, die aus dem Gebiet der ehemaligen SBZ, das heißt der DDR, verschleppt wurden. Wer ein paar Meter oder Kilometer östlich von Oder oder Neiße geschnappt wurde, geht im neuen Gesetz leer aus und soll auch in einem zweiten nicht berücksichtigt werden. Für diese Gruppe, von der heute noch schätzungsweise 300 bis 1.000 in den neuen Bundesländern leben, kämpft Eva-Maria Stege im „Bund Stalinistisch Verfolgter“. Bis in höchste Regierungskreise wurde sie vorstellig, etwa bei Angela Merkel (CDU). Die aber speiste sie ab mit dem lapidaren Verweis, daß derzeit in Bonn an einem „Kriegsfolgenbereinigungsgesetz“ gearbeitet werde, in dem auch Inhaftierte und Deportierte aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Berücksichtigung finden sollen. „Über die weiteren Entwicklungen informieren Sie sich bitte aus der Presse“ — mit freundlichem Gruß, Ihre Frauenministerin.

Eva-Maria Stege kämpft gegen die Zeit, gegen die „biologische Lösung des Problems“. Denn die ältesten der Frauen, die sie betreut, sind heute 80 oder 90 Jahre alt — wie ihre Mutter um Beispiel. Für sie stellt sie Anträge auf Kriegsopferrente oder auf Unterstützung von der Stiftung für politische Häftlinge, ein bürokratischer Aufwand, den die meisten aus eigener Kenntnis oder Kraft alleine gar nicht bewältigen könnten. Dabei sind die alten Frauen dringend auf die paar tausend Mark angewiesen. Einige Betroffene haben sich inzwischen gemeldet, kommen in die Sprechstunde. Sie haben Vertrauen zu einer, die ihr Schicksal teilt, erzählten— manche zum ersten Mal — von der erlittenen Gewalt, Erlebnisse, die sie bislang nicht einmal dem Ehemann anvertraut haben. Aber öffentlich bleiben sie stumm. „Wer, wenn nicht ich, soll sprechen, wenn die anderen alle schweigen?“ macht Eva-Maria Stege sich Mut für diese Aufgabe. Seit Jahren ist sie mit ihren unheilbaren seelischen Wunden in psychotherapeutischer Behandlung. Doch jüngst hat sie einen neuen harten Schlag erhalten. Am Gründonnerstag konnte sie zum ersten Mal bei der Gauck-Behörde Einblick in ihre Akte nehmen:

„Statt der Rente bekam ich die Stasi“, weiß sie heute. Denn von 1952 bis 1988 wurde sie fast lückenlos überwacht. Mehr als zehn Ordner war sie der Stasi wert. Im Mittelpunkt der Bespitzelungen stand seit den fünfziger Jahren der Verdacht, daß sie innerhalb der DDR „zentraler Stützpunkt“ für eine „kriminelle Menschenhandelbande“ sei, las sie dort fassungslos. 1954 wurde sie verhaftet. Eine Kollegin war wegen angeblicher Spionage festgenommen und zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Von ihr war Eva- Maria Stege schwer belastet worden. Nach 24 Stunden war sie zwar wieder frei, bekam aber Berlin-Verbot. So pendelte sie lange Jahre zwischen ihrem weit außerhalb gelegenen möblierten Zimmer und ihrem Arbeitsplatz. Ihren kleinen Sohn mußte sie zu ihren Eltern aufs Land geben. Doch beruflich ging es ihr zunächst nicht schlecht, sie bekam eine interessante Stelle im Außenhandel. Ihre „sibirische Vergangenheit“ aber begleitete sie in ihrer Kaderakte und drückte ihr das Siegel „politisch unzuverlässig“ auf. Zumal sie sich nie um Aufnahme in die SED bemühte. 1961 wurde ihr Bruder wegen versuchter Republikflucht zu 12 Monaten verurteilt. Die Konsequenzen für sie: Strafversetzung auf eine schlechter bezahlte Stelle. Eva-Maria Stege aber blieb auf unspektakuläre Weise widerständig. So weigerte sie sich 1968 als einzige in ihrem Betrieb, eine Resolution für den Einmarsch der Warschauer-Pakt- Truppen in die CSSR zu unterschreiben. 1978 versuchte ihr Bruder zum zweiten Mal die Flucht. Eva-Maria Stege knüpfte Kontakte zum Anwalt Vogel, der ihren Bruder nach einem Jahr Haft in die Bundesrepublik verkaufte. Sie war gewarnt worden: Sobald ihr Bruder die Staatsangehörigkeit abgesprochen bekäme, gäbe es für sie im Außenhandel kein Bleiben mehr. So geschah es. Sippenhaft: Kaum war ihr Bruder drüben, war Eva-Maria Stege draußen. Nach 26 Jahren mußte sie sich für monatlich 327 Mark für den Rest ihrer Arbeitszeit als Ankleiderin im Berliner Metropol-Theater verdingen. Neben der Gesundheit sind ihr durch diese Dequalifizierung rund 140.000 Mark an Verdienst und eine entsprechende Rente verlorengegangen. Eine Entschädigung hat sie dafür bis heute nicht bekommen.

Wenn sie früher schon gewußt hätte, was sie seit April weiß, hätte sie sicher „längst Schluß gemacht“, sagt Eva-Maria Stege müde. Das Ausmaß der Bespitzelung und des Verrats im Friedenskreis Pankow, in dem sie seit Anfang der achtziger Jahre „so etwas wie eine politische Heimat“ gefunden hatte, berührt sie dabei noch am wenigsten. Fassungslos ist sie über das halbe Dutzend IMs, das sie in ihrem engsten FreundInnenkreis ausgemacht hat. Und da ist noch eine Beunruhigung: Es soll über sie eine Akte unter dem Namen „TV Bremse“ geben, die bislang unauffindbar ist. „Ich denke, mit Sibirien wäre ich irgendwie fertiggeworden“, sagt Eva-Maria Stege heute, „aber daß es dann fast nahtlos weiterging, hat mir den Rest gegeben.“ Sie sei nur froh, daß sie heute keinen Haß mehr spüre. Wohl aber sind die Alpträume zurückgekehrt: Sie steht mit vielen Frauen in einer Reihe. Ein sowjetischer Offizier befiehlt: „Hand aufmachen.“ Alle Frauen zeigen eine Plastikmarke vor, die meisten eine rote, nur ihre ist schwarz. Der Offizier sagt: Die schwarzen gehen nach Sibirien.

„Warum immer wieder ich? Ich war doch schon dort!“ schreit Eva- Maria Stege verzweifelt. Davon wacht sie auf.

Sigrid Moser (Hrsg.): Bald nach Hause — Skoro damoi. Das Leben der Eva-Maria Stege. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1991

Gerhard Reichling, Statistiker und Demograph, hat vor einiger Zeit die Zahl der deutschen Frauen und Mädchen geschätzt, die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie während der Flucht und Vertreibung vergewaltigt wurden. Nach seinen Schätzungen wurden 1,4 Mio. von Angehörigen der Roten Armee auf dem Vormarsch bis Berlin vergewaltigt, eine halbe Mio. in der späteren SBZ. Reichling ist z.Zt. Leiter der Deutschen Sektion der wissenschaftlichen Arbeitsstelle der Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem und Autor zahlreicher Publikationen.

Vgl.: Helke Sander, Barbara Johr (Hrsg.): „BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder“. Kunstmann Verlag, München 1992. In jahrelangen Recherchen sind die beiden Herausgeberinnen dem Tabu der Massenvergewaltigungen in Deutschland in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen nachgegangen, haben u.a. Hunderte Gespräche mit betroffenen Frauen geführt. Die Ergebnisse wurden jetzt in genannter Publikation und einem Film gleichen Titels veröffentlicht.

Vgl.: Herbert Mitzka: „Zur Geschichte der Massendeportationen von Ostdeutschen in die Sowjetunion im Jahre 1945“. Sera Print Verlag, 3. Auflage 1989.


Kamerad Reinhard Fricke und Gustav Rust lernten sich in der UHa Potsdam-Bauhofstraße kennen und gingen von dort auf Transport nach Torgau. Reinhard Fricke wurde zur Arbeit eingesetzt beim VEB Kfz-Zubehörwerk Meissen. Gustav Rust kam wieder in die Werkstatt als Schmied und Schweißer. Reinhard Fricke musste Bremstrommeln drehen und war auf der Jugendstation untergebracht weil er erst 17 Jahre alt war und Jugendliche etwas mehr Kaltverpflegung bekamen. Als er 18 Jahre alt wurde, verlegte man ihn zu uns Erwachsenen. Näheres in meiner Biografie „Ich war auch dabei“.  


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